Exkulpationsstrategien: Hermann Geywitz und die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ im Juni 1938

Am 7. August 1947 stufte die Spruchkammer Bad Cannstatt den ehemaligen Kriminalrat Hermann Geywitz als „Mitläufer“ ein, obwohl er aufgrund seiner 5-monatigen Tätigkeit bei der Geheimen Staatspolizei Stuttgart und seiner NSDAP-Mitgliedschaft als „Hauptschuldiger“ angeklagt worden war. Geywitz war dennoch nicht mit dem Urteil zufrieden und legte Berufung ein in der Hoffnung, als sogenannter „Entlasteter“ schneller in den Polizeidienst zurückkehren zu können.

Hermann Geywitz war der Stuttgarter Kriminalpolizei im April 1922 beigetreten; nach 27 Dienstjahren hatte er im September 1939 eine Abordnung zur Geheimen Staatspolizeileitstelle erhalten. Nur fünf Monate später kehrte er zur Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart zurück. Bis Kriegsende erfolgten diverse Versetzungen zwischen den Kriminaldienststellen Mulhouse, Stuttgart und Mannheim. Es sticht hervor, dass sich die Spruchkammer allein auf die 5-monatige Abordnung zur Gestapo fokussierte, statt sich ausgiebig mit seiner langjährigen Arbeit bei der Kripo auseinanderzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt galt die Kriminalpolizei – im Gegensatz zur Gestapo oder NSDAP – nicht als „verbrecherische Organisation“ im Sinne der Nürnberger Prozesse. Geywitz Tätigkeit bei den Kriminaldienststellen Stuttgart, Mannheim und Mulhouse widmete sich laut Spruchkammer ausschließlich der „kriminellen Verbrechensbekämpfung“. Was sich allerdings hinter diesem Terminus verbirgt und womit Geywitz konkret befasst war – mit diesen Fragen setzte sich das Gericht nicht auseinander.

Urteil der Spruchkammer 13 Stuttgart Bad Cannstatt vom 7. August 1947, Quelle: StAL EL 902/20 Bü. 4880 | Klicken zum Vergrößern

Tatsächlich hatte sich die Kripo während des „Dritten Reiches“ unter dem Propagandabegriff der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ an der Ausgrenzungs- und Verfolgungspraxis sogenannter „Asozialer“ beteiligt. Unter diesem Stigma waren Tausende Personen, darunter Bettler, Landstreicher, Prostituierte und auch sog. „Zigeuner“ in Konzentrationslager verschleppt worden. Diese Taten verschwieg Geywitz jedoch vor der Spruchkammer und behauptete: „Dass ich jemanden in das KZ gebracht hätte, ist mir nicht in Erinnerung. Es wäre dies gegen mein Gewissen und innere Überzeugung gegangen.“ Dass Geywitz hier eine offensichtliche Exkulpationsstrategie verfolgt, belegen andere Aussagen von ihm während des Spruchkammerverfahrens. So berichtete er von einer reichsweiten Razzia gegen „Berufsverbrecher“, bei deren regionaler Umsetzung er 1938 mit einer Leitungsposition betraut worden war. Dabei kann es sich nur um die sogenannte Aktion „Arbeitsscheu Reich“ vom Juni 1938 handeln, die von Reinhard Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei angeordnet und von der Kriminalpolizei durchgeführt worden war. Die Aktion fußte auf dem Grunderlass zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom Dezember 1937 mitsamt den im April 1938 verabschiedeten Ausführungsbestimmungen, an deren Entstehung der badische Jurist und Kriminalpolizist Paul Werner maßgeblich beteiligt gewesen war. Während die Verhafteten bei früheren Razzien noch in regulären Gefängnissen oder Arbeitshäusern interniert worden waren, verschleppte die Kriminalpolizei 1938 alle Aufgegriffenen ausnahmslos in Konzentrationslager, die in den Akten zynisch als „Arbeits- und Besserungsanstalt“ bezeichnet wurden. Historikern zufolge markiert dieser Umbruch die zweite Phase der staatlichen „Asozialen“-Verfolgung, die von einer zentralen Organisation gekennzeichnet war.

Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ bestand aus zwei Massenverhaftungswellen, die im April und Juni 1938 ausgeführt wurden. Für die Festnahmen im Rahmen der April-Aktion war die Gestapo zuständig, die zwischen 1.500 und 2.000 Menschen als „Schutzhäftlinge“ in das Konzentrationslager Buchenwald einlieferte. Für die Organisation der Juni-Aktion waren hingegen die 15 Kriminalpolizeileitstellen des Reiches unter der Leitung der Reichskriminalpolizei verantwortlich. Gestützt auf den Grunderlass „zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ verhaftete die Kriminalpolizei nach aktuellem Stand 9.000 bis 10.000 Menschen und deportierte sie in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen.

Die zweite Verhaftungswelle 1938 richtete sich gezielt gegen Personen, die per se als arbeitsfähig galten, sich allerdings nicht an die vom NS-Staat propagierte Arbeitsnorm hielten und dementsprechend als „arbeitsscheu“ denunziert wurden. Die Durchführungsrichtlinien des Grunderlasses definierten den Begriff „asozial“ bewusst sehr vage: „Als asozial gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will.“ Diese Definition lieferte den Kripobehörden vor Ort einen weiten Ermessensspielraum. Vor allem Personen ohne festen Wohnsitz oder solche, die nicht in einem abhängigen Arbeitsverhältnis standen (z. B. selbständige Musiker), gerieten in den Fokus der Aktion „Arbeitsscheu Reich“. Wie Forschung zeigen konnte, war ein zentrales Motiv der Aktion der Bedarf an Arbeitskräften für die neugegründeten SS-Betriebe in den Konzentrationslagern. Daher wurden vor allem arbeitsfähige junge Männer verhaftet.

In ihrer Studie über Köln belegen Karola Fings und Frank Sparing, dass „bei keiner anderen Gruppe die Schwelle für eine Verhaftung derart niedrig angesetzt“ war wie bei „Zigeunern“. Im Falle dieses Personenkreises genügte bereits eine einzige Vorstrafe oder die Tätigkeit als Gelegenheits- beziehungsweise Saisonarbeiter für eine Festnahme. Die Forschung zur Aktion „Arbeitsscheu Reich“ hat sich bislang kaum auf die als „Zigeuner“ Stigmatisierten konzentriert. Quellen für das Gebiet des heutigen Baden-Württembergs zeigen jedoch, dass auch Sinti und Roma im Zuge der Juni-Aktion verhaftet wurden. Darunter waren mindestens vierzehn Personen aus Baden und vier aus dem Raum Ravensburg. Im Rahmen der Recherchen zum aktuellen Forschungsprojekt konnten zwei weitere Verhaftungsopfer aus dem Raum Stuttgart identifiziert werden. Es handelt sich um die Brüder R., die nach ihrer Verhaftung kurzfristig in einem Gefängnis interniert und mit einem Sammeltransport in das KZ Dachau verschleppt wurden. Der Transport mit den Brüdern R. und 193 weiteren Männern traf am 27. Juni 1938 im bayerischen Konzentrationslager ein. Das Schicksal vieler „Arbeitsscheu Reich“-Häftlinge ist immer noch ungeklärt. Doch kann man davon ausgehen, dass ein Großteil die Haft- und Lebensbedingungen nicht überlebte. Im Falle der Brüder R. ließ sich feststellen, dass der jüngere Bruder die nationalsozialistische KZ-Haft überlebte; der ältere Bruder verstarb jedoch im Oktober 1938 in Dachau.

Trotz regionaler Planung und Durchführung der Aktion „Arbeitsscheu Reich“, die einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Konzentrationslager markiert, war sich der Kriminalpolizist Hermann Geywitz wenige Jahre nach Kriegsende keiner Schuld bewusst. Statt sich selbstkritisch mit seiner damaligen Rolle auseinanderzusetzen, führte er seine langjährigen, angeblich unpolitischen Berufserfahrungen als Argument an, um schnellstmöglich wieder in den Kriminaldienst zurückkehren. Während seines Spruchkammerverfahrens kam ihm sein früherer Kollege Otto Wacker zu Hilfe, der zwischen 1934 und 1940 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart tätig gewesen war. Wacker konnte die Entnazifizierungsbehörde davon überzeugen, dass Geywitz während seiner Abordnung zur Gestapo „aktiv Widerstand“ gegen das nationalsozialistische Regime geleistet hätte. Diese Aussage entkräftete die Vorwürfe der Spruchkammer und veranlasste das Gericht, den Kriminalbeamten lediglich als „Mitläufer“ einzustufen. Schließlich unterstützte sogar der Stuttgarter Polizeidirektor die Rückkehr Geywitzes in den Polizeidienst. Ab 1. November 1951 war Geywitz wieder als Kriminalhauptkommissar in der württemberg-badischen Landeshauptstadt tätig. Er konnte seine Karriere unbehelligt bis zur Pensionierung fortsetzen.

Quelle: StAL EL 902/20 Bü. 4880.

Schreiben an die Berufungskammer Stuttgart vom 14. Januar 1948

StAL EL 902--20_Bü 4880_0039

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